Eine Spirale zwischen Himmel und Erde

Retour
Eine Spirale zwischen Himmel und Erde
Jan Vandenhouwe

Als «Triumph des Geistes über die Materie» bezeichnete der große Bach-Biograph Philipp Spitta Bachs Kompositionen für Solo-Streichinstrumente, zu denen neben den sechs Cellosuiten auch die Sonaten und Partiten für Solovioline gehören. Die sechs Suiten zeigen nicht nur, dass Bach über profundes Wissen in Bezug auf die technischen Möglichkeiten des Cellos verfügte, sondern sie bezeugen auch die Meisterschaft, mit der er den polyphonen und harmonischen Reichtum seiner musikalischen Sprache auf dem an sich einstimmigen Instrument zu realisieren wusste. Akkorde und mehrstimmiger Kontrapunkt sind auf dem Cello schwierig zu spielen, dennoch gelingt es Bach, Musik zu schreiben, die so reich und frei klingt, wie seine großen Klavier- und Chorwerke – und das macht die Cellosuiten zu Meilensteinen der westlichen Kompositionskunst.

Dass Bach auf der Grundlage äußerst beschränkter Mittel einen monumentalen Zyklus kreierte, übt auf Anne Teresa De Keersmaeker große Faszination aus. Auch ihr geht es als Choreographin und als Tänzerin darum, sich auf das Wesentliche zu beschränken, das heißt, die Essenz zu erfassen und herauszuarbeiten. Anne Teresa De Keersmaeker hat ihre Arbeit als Choreographin wiederholt definiert als «das Organisieren von Bewegung in Zeit und Raum auf einer horizontalen und einer vertikalen Achse». Die horizontale Achse ist die soziale Achse, auf der Menschen aufeinander zugehen oder einander ausweichen. Die vertikale Achse ist die spirituelle Achse zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie.

In «Mitten wir im Leben sind», ihrer Choreographie der sechs Cellosuiten, ist Bachs Musik das Leitprinzip, das sowohl den zeitlichen Verlauf als auch die räumliche Struktur bestimmt. Auf dem Boden der Bühne ist die Projektion einer farbenfrohen, geometrischen Grundstruktur von sich überlagernden Pentagrammen, Kreisen und Spiralen zu sehen, die sich ins Unendliche fortzusetzen scheinen.

Großen Einfluss auf die räumliche Organisation des Tanzes hatte die Entscheidung, den Cellisten Jean-Guihen Queyras auf der Tanzfläche zu platzieren, das heißt, dass er nicht, wie bei klassischen Konzerten üblich, dem Publikum frontal gegenüber sitzt, sondern zu Beginn jeder Suite seinen Standort auf der Bühne wechselt. Dadurch nehmen die ZuschauerInnen die körperliche Anwesenheit des Musikers und der TänzerInnen bei jeder Suite aus einer anderen Perspektive wahr, öffnet sich im Laufe der Vorstellung die Spirale der Grundstruktur und dehnen sich die Pentagramme aus. Das architektonische ‹framework› der Choreographie folgt der Grundstruktur von Bachs sechsteiligem Zyklus «auf dem Fuß».

Anne Teresa De Keersmaeker weiß auf einzigartige Weise musikalische Strukturen in einer Choreographie sichtbar zu machen. Während der Proben hat Jean-Guihen Queyras mit ihr und ihren TänzerInnen die Phrasierung und die harmonische Struktur analysiert, in der die Architektur und Rhetorik der Cellosuiten verankert sind. Unter der melodischen Hauptlinie des Cellos lässt sich oft die nicht hörbare Basslinie mit den Grundtönen des harmonischen Verlaufs bemerken. Die harmonische Struktur von Bachs Musik ist für Anne Teresa De Keersmaeker maßgeblich für die Bewegungen der TänzerInnen und die Entfaltung der Choreographie. Modulationen oder Wechsel von Dur nach Moll beeinflussen die Entwicklung der vertikalen Achse, die aus der sich öffnenden Spirale der in Bewegung befindlichen menschlichen Wirbelsäule entsteht.

In ihrer Form ähneln die sechs Cellosuiten den sogenannten Englischen Suiten für Cembalo. Jede der sechs Suiten ist aus sechs Teilen zusammengesetzt. Den traditionellen Tänzen der barocken Suiten – Allemande, Courante, Sarabande und Gigue – geht ein ausgedehntes Präludium voraus, und zwischen den Sarabanden und den Gigues fügt Bach moderne «Galanterien» ein: Menuette, Bourrées und Gavotten. Weil jede Suite einen ausgesprochen eigenen Charakter besitzt, unterscheiden sie sich – trotz der allen Suiten gemeinsamen Grundstruktur – deutlich voneinander. Aus diesem Grund koppelt Anne Teresa De Keersmaeker die ersten vier Suiten des Zyklus jeweils an die Persönlichkeit der einzelnen TänzerInnen: in der Ersten Suite an Michäel Pomero, in der Zweiten an Julien Monty, in der Dritten an Marie Goudot und in der Vierten an Boštjan Antončič.

In den Präludien der Suiten bietet Anne Teresa De Keersmaeker der Individualität der einzelnen TänzerInnen Raum, entwickelt das choreographische Material jedoch immer aus der sich öffnenden Spiralbewegung der Wirbelsäule und verknüpft es eng mit dem spezifischen Charakter, der Klangfarbe und Tonart der jeweiligen Suite. Die Ausgangsposition der einzelnen TänzerInnen bleibt in Relation zu dem wechselnden Standort von Queyras auf der sich öffnenden Spirale des geometrischen Grundmusters auf dem Tanzboden immer gleich. Im Laufe des Zyklus wird eine dramaturgische Strategie sichtbar.

Während Michaël Pomero im Präludium der Ersten Suite das geometrische Grundmuster mit großen Bögen überzieht und rhythmisch einen gewissen Abstand zur Musik bewahrt, besteht die Choreographie für Boštjan Antončič zu Beginn der Vierten Suite aus kurzen rhythmischen Loops, die die Musik vorgibt. Anne Teresa De Keersmaeker knüpft, ihrem Prinzip «one note, one step» folgend, hier jede Bewegung und jeden Schritt des Tänzers an die Noten, und es scheint, als würde auch das Publikum im Laufe der Vorstellung Schritt für Schritt tiefer in den Sog von Bachs Musik gezogen.

Da die ersten vier Suiten jeweils mit einem bestimmten Tänzer oder einer bestimmte Tänzerin verbunden werden, entsteht eine choreographische Handschrift, die – in Übereinstimmung mit Bachs Musik für Solo-Cello – dem Wesen nach einstimmig ist. Bei dem Versuch, das Element der Mehrstimmigkeit in die Choreographie zu integrieren, lässt De Keersmaeker große Zurückhaltung walten. In den Allemanden, die sich aus den Präludien entwickeln, kommt sie zu ihren TänzerInnen hinzu und tanzt selbst eine choreographische Phrase, die sich wiederholt und immer exakt identisch bleibt. Die TänzerInnen reagieren darauf individuell verschieden, und so entwickeln sich immer neue Variationen um diese Konstante: «Es entsteht ein fließender Kontrapunkt, in dem die TänzerInnen das Material meiner Phrase aufnehmen, aber mit minimalen Verschiebungen», erklärt De Keersmaeker. Zwischen Unisono und Kontrapunkt entfaltet sich ein Kontinuum.

Auch in den anderen Tänzen der Suiten versuchen De Keersmaeker und ihre TänzerInnen, mit modernem Bewegungs-material eine Antwort zu formulieren auf die historischen Tanzformen, die der Komposition zu Grunde liegen. In den Courantes sind Laufbewegungen der logische Ausgangspunkt der Choreographie, da der Name dieses schnellen Tanzes von courir, dem französischen Wort für rennen, abgeleitet ist. Auf den Zirkeln des geometrischen Grundmusters tanzen die TänzerInnen die A-Teile der Komposition im Uhrzeigersinn, die B-Teile gegen den Uhrzeigersinn, die Dur-Passagen vorwärts und die Moll-Passagen rückwärts.

Das langsame Tempo der feierlichen Sarabanden dagegen lädt zu skulpturalen Posen ein, wobei die TänzerInnen in die Mitte der geometrischen Grundstruktur zurückkehren, in das Herz der sich öffnenden Spirale, die mit dem sich verschiebenden Pentagramm verbunden ist. Ausgangspunkt der Choreographie ist – wie in den Präludien – die vertikale Achse, die in der harmonischen Struktur der Musik verankert ist.

Im fünften Teil der Suite, den Menuetten, den Bourrées und Gavotten, verlagert sich der Tanz auf die diagonale Linie, die im Rahmen der Grundstruktur zugleich die Tangente der sich öffnenden Spirale ist. Einem weiteren Prinzip von Anne Teresa De Keersmaeker – «my walking is my dancing» – folgend, laufen die TänzerInnen hier die untergelegte Basslinie, das in der Regel nicht hörbare musikalische Skelett der Cellosuiten. Die zirkuläre Grundstruktur kehrt in den Gigues zurück, in denen die Choreographie den brillanten, virtuosen Charakter dieser schnellen Schlusstänze widerspiegelt.

Es ist kennzeichnend für Bachs systematisches Vorgehen, dass er die sechs Suiten eindeutig als Zyklus geplant hat. Es ist nämlich kein Zufall, dass es sich bei den vorletzten Teilen der ersten beiden Suiten um Menuette handelt, bei der Dritten und Vierten Suite um Bourrées und, im Fall der beiden letzten Suiten, um Gavotten. Bei den Menuetten setzt De Keersmaeker nur einen Tänzer ein, bei den beiden Bourrées entweder zwei Tänzerinnen oder drei Tänzer, und bei der letzten Gavotte alle fünf.

Mit der Fünften Suite scheint Bach einen neuen Weg einzuschlagen und ein neues Kapitel zu beginnen. Das umfangreiche Präludium besteht aus zwei Teilen und referiert auf die sogenannte französische Ouvertüre, in der eine langsame, feierliche Einleitung einer Fuge vorausgeht. Um eine Fuge – die musikalische Form der Mehrstimmigkeit schlechthin – für ein im Grunde einstimmiges Instrument zu schreiben, musste Bach einen kompositorischen Kraftakt vollbringen. Die gesamte, in d-moll geschriebene Suite ist von einer sehr eigenen Klanglichkeit geprägt, weil Bach vorschrieb, die a-Saite auf g umzustimmen. Bach entschied sich für diese unübliche Stimmung, um Resonanzen und andere Formen des Zusammenklangs zu generieren. Die melancholische Sarabande ist nicht nur das dunkle Herzstück der Fünften Suite, sondern des gesamten Zyklus. Für Anne Teresa De Keersmaeker, in deren Werk mathematische Proportionen eine große Rolle spielen, ist es von besonderer Bedeutung, dass diese Sarabande im Verlauf der etwa zweistündigen Gesamtdauer des Zyklus’ kurz nach dem Goldenen Schnitt erklingt. An dieser Stelle der Choreographie herrschen Düsternis, Leere und Abwesenheit. Umso strahlender klingt danach die Sechste Suite in D-Dur, die Bach zweifellos als Krönung des gesamten Zyklus konzipiert hat. Diese Suite unterscheidet sich in ihrem Aufbau nicht von den vorhergehenden, die Expressivität und der technische Schwierigkeitsgrad sind hier jedoch erheblich gesteigert. Diese Suite erfordert ein Cello, dessen fünfte Saite auf e gestimmt ist, und die Komposition klingt von Beginn an wie ein brausendes Fest mit den vier tanzenden d, von denen fis, a und die Oktave wie Funken aufwirbeln und – nach dem dunklen De Profundis der Fünften Suite – dem Schluss des Zyklus‘ eine Auferstehungsstimmung verleihen: Bachs «Triumph des Geistes über die Materie» klingt als Triumph des Lebens über den Tod. Anne Teresa De Keersmaeker choreographiert die Sechste Suite als kollektiven Tanz, an dem alle PerformerInnen, das heißt, die fünf TänzerInnen und der Cellist, teilnehmen. Ihre Auseinandersetzung mit den Cellosuiten fasst sie wie folgt zusammen: «Bachs Genialität liegt meiner Meinung nach in der Tatsache, dass er nicht nur ein großer Musiker, sondern auch ein Architekt, Maler und Dichter war. Im Zyklus der Sechs Cellosuiten ist ein unterschwelliger Strom menschlicher Grunderfahrungen und existentieller Gefühle spürbar, die für jeden erkennbare condition humaine.»


Jan Vandenhouwe ist designierter Künstlerischer Leiter der Opera Vlaanderen (Antwerpen und Gent) ab 2019. Von 2015 bis 2017 war er Chefdramaturg der Ruhrtriennale und von 2005 bis 2008 Dramaturg an der Opéra national de Paris. Als freischaffender Musikdramaturg war er für Institutionen wie das Teatro Real in Madrid, das Ensemble intercontemporain in Paris sowie das Klarafestival in Brüssel tätig. Mit den Regisseuren Anne Teresa De Keersmaeker, Alain Platel, Ivo van Hove und Johan Simons verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit.

Dieser Text wurde erstmals abgedruckt im Programmheft der Uraufführung der Produktion am 26.08.2017 in Gladbeck im Rahmen der Ruhrtriennale 2017. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Rosas.