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Isa Wortelkamp

Choreographien zwischen Bewegung und Zeichnung

Ein Mann bewegt sich auf einem Rollbrett sitzend durch das Atrium des Museum of Modern Art in New York. Mit seinen Füßen stößt er sich mit schnellen Schritten vom Boden ab, einen Kreis durch den Raum ziehend. In seiner Hand hält er ein Stück Kreide, mit der er seinen Weg auf dem Boden einzeichnet. An der Kreide ist eine Schnur befestigt, die am anderen Ende von einem weiteren Mann gehalten wird, der, im Abstand von etwa drei Metern kniend, das Zentrum des Kreises auf dem Boden fixiert. Zwischen den beiden, der unbewegten und der bewegten Person, muss die Spannung der Schnur gehalten werden, um einen exakten Kreis zu markieren. Ein neuer Punkt wird eingezeichnet, das Zentrum bestimmt, Maß genommen und eine Linie gezeichnet.

«Lines Drawn for Anne Teresa De Keersmaeker’s Work/Travail/Arbeid» ist diese Szene überschrieben, die mir als dreiminütiger Filmausschnitt bei meiner Recherche für diesen Text im YouTube- Portal begegnete. Es sind Linien für eine Choreographie. Sie gehen dem Tanz voraus und bereiten der Bewegung den Boden. Die Zeichnung, wie sie hier von zwei Mitgliedern der Company Rosas ausgeführt wird, erscheint dabei selbst wie eine Choreographie, insofern sie den Raum durch die Bewegung beschreibt – verzeichnet.

In den Vordergrund tritt damit die Dimension des Graphischen als fixierender und materialisierender Akt, der den Begriff der Choreographie bis ins 19. Jahrhundert hinein geprägt hat. Erstmals gegen 1588 von Théophile Arbeau in seinem Tanzlehrbuch Orchésographie thematisiert, bezieht sich die choreographische Tätigkeit auf die Notierung von kodifizierten Tanzschritten und -figuren mit Hilfe von Wortkürzeln. Auch Raoul Auger Feuillets nennt im späten 17. Jahrhundert die systematische Tanznotation der Schule von Charles-Louis Beauchamp, Tanzmeister am Hofe Ludwigs XIV., Chorégraphie. Seine Tanzschrift wird in Form von Bodenwegslinien als Ergebnis der Bewegung aus der Aufsicht verfasst.

Die Linien für Anne Teresa De Keersmaekers Work/Travail/Arbeid erinnern an diese historische Bedeutung der Choreographie als Notation von Bewegung. Jedoch sind sie weder das Ergebnis noch die Voraussetzung der Bewegung. Vielmehr entwickelt sich ihr Sinn zuallererst im Gefüge der Bewegung durch Zeit und Raum. Die Kreise halten die Zeichnung in der Bewegung der sieben Tänzer präsent, die sie überschreiten und durchkreuzen. Sie ziehen dabei selbst Kreise, um die ebenfalls im Raum sich bewegenden sieben Musiker, die Zuschauer und – selten – um sich selbst. Das Kreisen der Bewegung korrespondiert mit den Kreisen der Zeichnung, transzendiert sie zu Spiralen, die sich gleichsam unendlich im Raum fortsetzen, als würden sie die Linien vom Boden auflesen und fortschreiben.

Der Raum für Work/Travail/Arbeid ist ein Ausstellungsraum, den das Publikum über mehrere Stunden hinweg besuchen kann, um den Tänzern und Musikern zuzusehen und -zuhören. Dabei werden die Zuschauer selbst Teil des Geschehens, indem sie ihre eigene Position suchen, ihre Perspektive wählen und wechseln. Durch die Bewegungen der Tänzer verändern sie ihren Abstand, je nachdem wie nah oder fern sie ihnen kommen möchten. Diese Möglichkeit unterscheidet den Ausstellungsraum von der Theaterbühne, die De Keersmaeker hier bewusst verlassen hat. Ausgehend von der Frage nach den Auswirkungen der Transposition einer Choreographie in das Format einer Ausstellung, überträgt sie das ursprünglich für die Bühne konzipierte Stück Vortex Temporum (Bochum 2013) auf die räumliche und zeitliche Ordnung des Museums. Der Titel der Choreographie ist zugleich der der Komposition von Gérard Grisey (1994–1996), die ihr zu Grunde liegt und die hier zu einer polyphonen Gestalt findet. Die sieben Musiker treten dabei in eine wechselseitige Verbindung mit den Tänzern, die über Raum und Zeit hinweg Kontakt zu ‹ihrem› Instrument behalten und ihre Bewegungen unmittelbar auf den Klang ‹abstimmen›. So kann das Kreisen auch als ein Umkreisen von Klang- und Tanzkörper gesehen werden, das im Museum noch um die Bewegung des Besuchers erweitert wird, die ebenfalls mit in das Blickfeld des Betrachters treten.

Durch die Aufführung im Museum ist die Bewegung von Tänzern, Musikern und Besuchern auch durch die architektonische Gestaltung des Raumes bestimmt. Er gibt seinerseits Blick- und Sichtachsen vor, setzt Standpunkte und Bewegungsverläufe und arbeitet auf diese Weise selbst choreographisch. So erlaubt das Centre Pompidou, wo die Choreographie 2016 zu sehen war, das Geschehen von außen durch die Glasfenster zu verfolgen, bevor man in die große Halle eintritt oder es aber bei dem Anblick als Außenstehender belässt. In anderen Räumen wie im Wiels in Brüssel oder im MoMA in New York erlauben die Räume weniger Abstand zum Geschehen. Die Besucher nutzen die Wände zum Anlehnen oder nehmen auf dem Boden Platz. Allen Räumen gemeinsam ist die Möglichkeit, einen Blickwinkel aus den oberen Etagen einzunehmen, wodurch die Wege und Bewegungen der Tänzer in Verbindung mit den Zeichnungen auf dem Boden sichtbar werden – als Übertretung von Grenzen, als Übertragung des Gegebenen in etwas Anderes, Eigenes.

«Es ist so schön, wenn jemand an einen Ort kommt, wo jemand anderes eine Zeitlang gewesen ist und bestimmte Dinge getan hat. Es ist, als ob man die Luft, die Energie des Ortes aufladen und mitnehmen kann.»

Nach der Aufführung im Museum setzt der Besucher seinen Weg möglicherweise anders fort, sieht den Raum, in dem getanzt wurde, mit einem veränderten Blick, der den Gang durch die Ausstellung begleitet. Die Übertragung der für das Theater geschaffenen Aufführung in die Ausstellung berührt unsere Wahrnehmung, insofern sie mit den Bedingungen der jeweiligen Institutionen und Formen der Präsentation arbeitet und sie in Beziehung zueinander setzt. Die durch die Anordnung der Exponate und Ordnung des musealen Raumes vorgegebene Bewegung des Besuchers erfährt durch die Aufführung eine Dynamisierung und Flexibilisierung. Wenngleich die Aufführung hier getrennt von den zu besichtigenden Ausstellungen im Museum stattfindet, führt sie eine Begegnung unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Bewegungskonzepte herbei, treibt sie wohlmöglich ineinander. Umgekehrt eröffnet die Aufführung einen Bewegungsspielraum, den er in einer klassischen Theatersituation, wie sie für Vortex Temporum den Rahmen bildete, nicht hat. Der Zuschauer kann, darf, muss sich entscheiden, welche Position er wählt, von welcher Perspektive er das Geschehen verfolgt, wie er sich bewegt, ob er sich bewegt oder nicht. Über die räumliche Wahlfreiheit hinaus ermöglicht die Aufführung, die hier den zeitlichen Bedingungen des Museums angepasst ist, zu kommen und zu gehen und sie – ohne selbst sichtbar zu werden – zu verlassen. Durch die Verbindung von Ausstellung und Aufführung wird die Choreographie dabei unter den Prämissen eines Exponates wahrnehmbar, das sich jedoch jeglicher Fixierung entzieht. Einzig die Kreise erinnern an das Kreisen. Wie unter einem Brennglas wird die Bewegung in ihren zeitlichen und räumlichen Bedingungen sichtbar. Was passiert, wenn man eine Aufführung in einem Museum zeigt, ist, dass sie passiert.

In den verschiedenen Museen wird Choreographie in ihrer Bedeutung als Beschreibung des Raumes reflektiert. Die Aufsicht auf das Geschehen hebt diese choreographische Reflexion zwischen Bewegung und Schrift hervor, schafft Distanz zum Umgang mit dem Raum und erweitert so die Handlungs- und Haltungsmöglichkeiten des Betrachters. Das Kreisen als Bewegung vollzieht sich dabei stets in Spannung zum Kreis als räumliche Einzeichnung.

Kreis m. (<12. Jd.). Mhd. kreiz, ahd. Kreiz ‹Umkreis, Bezirk›, mndd. Kreit, kret(e) ‹Kampfplatz, Kreis› neben ablautenden Formen in mndd. Kriten, mhd. krizen (vermutlich stV.) ‹eine Kreislinie ziehen›. Vermutlich ziegt ahd. Krizzon ‹einritzen› die Ausgangsbedeutung: Ein Kreis ist ursprünglich der auf dem Boden eingeritzte Platz (auf dem z. B. gekämpft wird.) Verb: kreisen (ein-, um-).

Die Verbindung von Bewegung und Zeichnung, wie sie der Begriff des Kreises etymologisch mit sich bringt, wird in einer anderen Choreographie, die De Keersmaeker ebenfalls in das Museum transferiert, als eine Spur sicht- und lesbar. In Violin Phase (New York 2011, London 2012, Luxembourg 2017) wird eine große Fläche von hellem Sand zum Boden des Tanzes, in die ein Kreis mit einem Mittelpunkt eingetragen ist. Die ersten Schritte der Tänzerin De Keersmaeker auf dem Sand sind mit Bedacht gesetzt. Jeder einzelne hinterlässt einen Abdruck, bevor sie zu tanzen beginnt. In spiralförmigen Bewegungen zieht sie über die Dauer von etwa fünfzehn Minuten die Kreislinie nach, durchmisst den Radius und markiert das Zentrum. Dabei geht sie den vorgezeichneten Weg nicht nach, sondern spielt mit der Linie, überschreitet, überzieht und überzeichnet sie. Durch die Wiederholung des Weges werden die Spuren immer wieder aufs Neue gezogen, werden – wie in einer (linkischen) Handschrift, die von der schreibenden Hand leicht verwischt werden kann – zu einer unaufhörlich sich überschreibenden Schrift. In dieser (Tanz-)Schrift verliert der Kreis seine Kontur, transzendiert seine Form. Kreis und Kreisen verbinden sich zu einer weiteren, einer dritten Bewegung, die sich als ein Überschuss in der Wahrnehmung zeigt und zeitigt. Es ist eine Bewegung, die zwischen Bewegung und Zeichnung oszilliert wie ein end- und haltloses Kreisen, das – verstärkt durch die perpetuierende Struktur der Komposition von Steve Reich – geradewegs in die Leere führt.

Die Kreisfigur ist ein wiederkehrendes Motiv in den Choreographien von De Keersmaeker. Neben Work/Travail/Arbeid finden sich kreisförmige Bodenlinien in dem bereits erwähnten Stück Vortex Temporum (Bochum 2013), in Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten (Gladbeck 2017), Partita 2 (Brüssel 2013) sowie in Cesena (Avignon 2011), Così fan tutte (Paris 2017). Mal bleiben sie über die Dauer der Aufführung bestehen, mal werden sie durch die Bewegungen der Tänzerinnen verändert und verwischt, oder – wie in der ursprünglichen Bühnenversion von Violin Phase, mit dem Titel Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich (Brüssel 1982) – nur durch die Bewegung beschrieben. Während sich hier die Kreisfigur als imaginäre Linie in der Wahrnehmung konstituiert, materialisiert sie sich im Film Fase (2002) von Thierry De Mey – wie in den späteren Aufführungen im Museum – als Spur. Auf einem erhöhten mit Sand bedeckten Boden sehen wir De Keersmaeker inmitten eines Waldes tanzen. Aus verschiedenen Perspektiven aufnehmend steht die Kamera dabei selbst nicht still und bewegt sich schließlich selbst kreisend um die Tanzfläche. Sowohl die Einstellungen im Film als auch zahlreiche Fotographien zeigen die Choreographie aus der Draufsicht. Bilder von unzähligen Spuren von Schritten, Schwüngen, Drehungen und Wendungen. Spuren, die nicht bleiben. Wie aus den oberen Etagen in den Museen erinnern sie an die vorübergehenden Bewegungen der Betrachter, an ihr Kreisen durch die Gänge, die sie spätestens nach der Ausstellung wieder verlassen.


Die Tanz- und Theaterwissenschaftlerin Isa Wortelkamp ist zur Zeit Heisenberg-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen promovierte sie an der Universität Basel mit der Arbeit Sehen mit dem Stift in der Hand – die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung (Freiburg im Breisgau 2006) und war anschließend als Wissensc haftliche Mitarbeiterin und bis 2015 als Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin tätig.